SCHWARZE STRAHLUNG

SCHWARZE STRAHLUNG

Reflexionen zu den Raumprojekten Mic Ennepers

Die Bestattung des Abendlandes ist im allgemeinen mit der Vergeßlichkeit im Bunde: Vergessen wurden nicht nur die einstigen seelischen Schätze einer tradierten Kultur, sondern auch das Be- dürfnis nach denselben. Unaufhaltsam vollzog sich im Schatten der siegreichen Ratio der katastrophische Niedergang des Mythischen. Eine endlose Säkularisierung provozierte das Scheitern von innen heraus, die Übertreibung des hochgeschätzten Vermögens führte zu einer ersatzlosen Ohnmacht der Moderne. Überdies herrscht weitläufig ein fast triebhafter Vergessensdrang, nicht nur bezogen auf die Wurzeln des Okzidents, sondern auch auf seine letzten Auswüchse aus jahrhundertelanger Verformung. Eine fidele bis zynische Resignation, gepaart mit einem fröhlichen Nihilismus totaler Entwertung, bildet die alltägliche Überlebensstrategie nach dem Rezept Nietzsches, den „Tod Gottes“ mit „übermenschlicher Heiterkeit“ zu überleben.1 Ohne quasi- mythische Orientierungen scheinen Mensch und Historie selbst keinen Sinn mehr zu haben. Hier nichts mehr zu vermissen heißt die Doktrin einer neuen Infantilgesellschaft. Die „heitere Inexi- stenz“ des Menschen2 wird zur Verhaltensnorm einer „neuheidnischen Kultur“3.

Dem einzelnen bleibt nur die Demonstration vom Niedergang seiner Zeit, Hilfe jedoch kommt ihm nicht zu, vermerkte Kierkegaard4. In einer Epoche, in der viele Künstler den triumphalen Sieg des Kapitals und seiner anonymen Mächte stützen, leistet sich der Künstler Mic Enneper die anachronistische Geste der Verweigerung. Er widersetzt sich der heute geforderten und geförderten Unterhaltungsverwertung und bedient nicht das Verlangen nach bewußtloser Zerstreuung eines neuen Kultur-Tourismus. Genährt wird nicht der beruhigende Traum einer noch existenten expressiven Wildheit, der die Kunst zum Exempel des Trostes deformiert, noch findet man Varianten einer grassierenden Installationssemantik. Unnachgiebig kompromittiert Enneper das entdeckungsfreudige Publikum. Er entzieht ihm den Genuß des Besitzens und Verfügens zugunsten einer Erfahrung des sprachohnmächtigen Ereignisses; Mic Ennepers Kunstprojekte entwickeln ihre eigene Dynamik, so daß der Betrachter sich den vertauschten Machtverhältnis- sen fügt. Seiner Autonomie beraubt, läßt er sich opfergleich entlang unsichtbarer Schranken zu den vermeintlichen Schauplätzen führen, um dort zu erfahren, daß er vom eigentlichen Geschehen ausgeschlossen bleibt. Der Besucher wird gezwungen, die Autarkie des Kunstwerkes anzuerkennen. In dem Scheitern der Bestrebung, es mental oder materiell in Besitz zu nehmen, offenbart sich ihm die immanente Botschaft der Inszenierung.

I.
Nach zehn Jahren eremitischen Kunstschaffens in verschiedenen Landschaften und men- schenverlassenen Räumlichkeiten (Erdarbeiten im Siebengebirge, Steinbauten auf Korsika und in der Bretagne, Ruinenhäuser in Florentiner Umgebung, beschädigte Wehrgänge einer Kölner Befestigungsanlage aus dem 19. Jh.) begann Mic Enneper 1987 in der Galerie Dietmar Werle mit dem Pilotprojekt einer neuen Werkserie, die sich ausschließlich auf die Situation öffentlicher Ausstellungsräume bezieht. Die Begrenzungen durch die fixen Raummaße bildeten ab nun die neuen Koordinaten seiner dem Kultischen entlehnten Baukörper. Als erste Formation der Trilogie

„Der Schatten - Die Konstruktion - Das Material“ installierte Mic Enneper einen sockellosen Quader als monolithisches Hindernis in die beengte Raumsituation. Durch die Bearbeitung der Oberfläche mit poliertem Graphit erhielt das Objekt eine kompakte einheitliche Präsenz. Der Betrachter mußte sich auf eine Stufe stellen, um durch ein kleines offenes Fenster Einblick in das Innere zu erlangen. Hierin schien sich die eigentliche Bedeutung der Arbeit zu konzentrieren. Auf drei dunklen Säulen stand, von spärlichem Licht beschienen, je ein silbrig glänzender, symbolhafter Metallkegel. Leise Schrittgeräusche einer Tonbandaufnahme zogen den Betrach- ter auch auditiv hinüber in eine ausgrenzende magische Welt.

Den zweiten Part der Werkserie präsentierte noch im gleichen Jahr der Düsseldorfer Galerist Udo Bugdahn in den oberen Räumen seiner Galerie. Orientiert an den Raumdiagonalen errich- tete der Künstler einen nahezu zehn Meter langen, schwarz pigmentierten Kubus, zu dessen Rückseite quer ein zweiter schmaler Kubus in einer hebelähnlichen Funktion angebracht war, der in schimmerndem Graphit direkt über dem Treppenaufgang hervorragte. Der Besucher wurde als erstes mit dieser überhängenden Last konfrontiert. Im Innern des Hauptkörpers waren als magisches Selbstzitat graphitgeschwärzte Gipsabgüsse des Künstlerkopfes im Regelmaß aufgereiht, die sich im Dunkeln verloren.

Im Frühjahr 1988 fand der letzte Teil des Zyklus „Der Schatten - Die Konstruktion - Das Material“ in der Kunsthalle Baden-Baden statt. Ein zweistöckiger, elf Meter langer Block mit schwarz ge- färbter, aufgerauhter Oberfläche drohte den hellen Ausstellungsraum zu sprengen. Auf neun Metallrohren lagernd, schien ihn ein unberechenbares dynamisches Potential zu bewohnen. Die imaginäre Bewegungsenergie wurde verstärkt durch die Beifügung einer abgestumpften Pyramidenform, die wie durch einen Aufprall aus ihrer Ruheposition gerissen und mit dem Kubus verkeilt schien. Im Innern des schwarzen Blockes hatte Enneper Abdeckroste von Lüftungsschächten als Zwischenboden eingezogen, dessen Lichtreflexe von der einzigen luziden Quelle des Einsichtsfensters erst langsam dem Auge deutlich wurden. Hier wirkte der Boden nicht mehr tra- gend, sondern als Versiegelung einer darunter unendlich lauernden Tiefe.

Die aus Holz konstruierten Objekte werden vom Künstler mit schwarzen und bleifarbenen Pig- menten derart präpariert und teilweise poliert, daß die großen Formen wie aus einem Guß erscheinen. Die Uneinsehbarkeit in die Konstruktion der Körper provoziert die Illusion, die massigen Quader seien auf magische Weise in die Räumlichkeiten eingedrungen und haben sich dort wie lichtscheue Wesen in dem Versteck verkeilt. Durch die Wiederaufnahme bestimmter Symbole und Kompositionselemente scheinen die Raumkörper mit sprachlosen Inhalten ange- reichert zu sein und eine aufgespeicherte Energie abzustrahlen. Die symbolischen Objekte im Innern der Konstruktionen verweisen in einer magischen Relation auf frühere Arbeiten des Künstlers, die dem Eindringling in diese verborgene Welt Rätsel aufgeben. Da jede Arbeit von Mic Enneper für die jeweilige Räumlichkeit speziell erdacht, ermessen und erbaut wird, bedeu- tet der Abbau der Konstruktion zugleich die vollkommene Zerstörung derselben. Die Urauffüh- rung eines Projektes ist zwangsläufig auch ihre einzige Präsentation und daher ein einmaliges Ereignis.

Im engen Verhältnis zu den visionär kostbar schönen Oberflächen, die den Betrachter auf Distanz halten, steht die formale Strenge der Komposition. Die überdimensionierten Ausmaße verstellen ihm einen jeglichen Überblick über die Gesamtkomposition. Von keinem „idealen

Standpunkt“ aus ist ein Projekt auf einen Blick erfaßbar und begreifbar. Nur durch Abschreiten des Raumes erhält der Betrachter in Addition der verschiedenen Teilaspekte und perspektivi- schen Ansichten eine Vorstellung des komplexen Geschehens. Allein diese Unmöglichkeit einer visuellen Inbesitznahme der Raumobjekte injiziert dem Rezipienten ein Gefühl leiblicher Be- drohung, zu dem er eine Haltung einnehmen muß und instinkthafte Affekte der Ablehnung, Neugierde oder Ohnmacht entwickelt.

Die Außenverkleidung der Objekte ist nicht nur aus Gründen der Farbreduzierung in dunklen Schwarztönen gehalten. Das Postulat des Verdunkelten hat Mic Enneper als ästhetisches Prinzip zum Programm erhoben. Lichtlose Unterwelten mit mythischen Anklängen wurden zu Pionierarbeiten seiner heutigen Raumkompositionen. Poliertes Graphit und schwarzes Pigment bilden dabei nicht nur Farbmaterial, sondern vermitteln ebenso einen Wärmegrad, die „schwarze Strahlung“. (Schwarze Strahlung schwarzer Körper ist eine physikalische Wärmestrahlung, die höher ist als die Strahlung anderer Körper im Raum.5) Durch die monochrom dunklen Ober- flächen erhalten die Raumkörper eine monolithische Präsenz in sich geschlossener Materie, die Anklänge an die Worte Flauberts vermitteln: „tief in die Materie hinabsteigen - Materie werden“6. Das Schwarze als Signum aller Moderne seit Baudelaire hat das Katastrophische überdauert, indem es den Schmerz transfiguriert. Es bringt von innen her dem Kunstwerk zu, was gesell- schaftliche Entfremdung widerspiegelt: „In der Lust am Schwarzen rezipiert die Kunst das Unheil und die Verdrängung, indem sie die Tragik durch Identifikation aus spricht (...) Das Hegelsche Motiv von Kunst als Bewußtsein von Nöten hat sich über alles von ihm Absehbare hinaus bestätigt.“7

II.
Die im allgemeinen unbewußte Wahrnehmung des Raumes offenbart sich durch eine Störung, wie sie ein künstlerischer Eingriff darstellt. Der Raum als solcher ist nach Kant eine notwendige Vorstellung a priori, die aller äußeren Anschauung zum Grunde liegt. Er markiert dem Subjekt in dessen Leiblichkeit seine ständige Kommunikation mit der Welt, die älter ist als alles Denken. Der Raum als solcher vermag auf magische Weise einer jeden Umgebung ihre räumliche Bestimmtheit zu verleihen. Der Besitz eines Leibes führt das Vermögen eines Raumverständnisses mit sich. Nur unter der subjektiven Bedingung äußerer Sinne ist uns äußere Anschauung mög- lich. Die Wahrnehmung ist eine Weise der Weltaneignung; experimentell verursachte Störungen beeinflussen das Verhältnis vom Subjekt zu seiner Wahrnehmung und darüber hinaus zur Welt. Erwartete Verhältnisse sind in einer künstlerischen Raumkomposition verändert zugunsten eines fiktiven Raumerlebens.

Der Eintritt in einen Ausstellungsraum Mic Ennepers bedeutet nicht nur eine visuelle, sondern vor allem eine leibliche Erfahrung. In die Aufmerksamkeit und Neugierde des Betrachters mischt sich durch die gegebene Verunsicherung des Leiblichen ein Mißtrauen vor dem Ungewissen. Dieser Spalt der Beunruhigung erfährt durch das räumlich Vorhandene noch eine Vertiefung. Der Autor nutzt die Unsicherheit des Betrachters als Nährboden für seinen Keim des Unheimlichen. Bereits hier beginnt unbemerkt vom Rezipienten die Umkehrung des autonomen Besuchers zum geleiteten Probanden einer Inszenierung. Es geschieht ein zweifacher Eingriff in die räumliche Wahrnehmung: Der Innenraum des Ausstellungsgebäudes wird zum Außenraum der Raumkörper; im Raum entsteht ein Raum, der wiederum einen Innenraum in sich birgt. Indem diese

neue Ordnung den Betrachter völlig einnimmt und das Bewußtsein von innen und außen ver- schiebt, wird er von der Außenwelt ausgegrenzt.

Die vorgestellten Behältnisse erweisen sich als architektonische Nachbildungen menschlicher Wohnstätten im weitesten Sinne. Alle Bauwerke, die Enneper entwirft, sind dem Menschenmaß angepaßt; sie simulieren das in sich bereits künstliche Bauen menschlicher Akte, zitieren kultu- relles Handeln und zweckhaftes Denken. Das Bauen als spezifisch menschliche Form des Daseins wird als Bedürfnis akzentuiert. Die Seinsform „(ich) bin/(du) bist“ entstammt dem alt- hochdeutschen Verb „buan“, welches „bauen/wohnen“ bedeutete.8 Die Raumkörper gleichen vor allem symbolischen Wohnstätten wie Grabmälern, Tempeln oder Zellen und Gefängniskammern, Räumen also, die besonderen Prozessen eines Rituals vorbehalten sind. Jedoch sind diese Zufluchtsstätten des Daseins mit dem Makel der Unzugänglichkeit und Finsternis behaftet. Dem Menschen als per definitionem wohnlichem Wesen wird damit das Scheitern seiner Schutzbestrebungen offeriert.

III.
Der symbolische Gehalt der Projekte Mic Ennepers wandelte sich von der dreigliedrigen Werk- gruppe „Der Schatten - Die Konstruktion - Das Material“ zu dem Zyklus „Lager“. Den singularen schwarzen Giganten von Köln und Düsseldorf folgt die Verdichtung mehrerer Objekte zu einer Kollision, wie sie als solche in Baden-Baden zum erstenmal auftrat. In der Kunsthalle Köln schie- ben sich die Raumkörper einer gewaltsamen Unordnung gleich ineinander. Einen Hinweis ent- hält bereits der zweideutige Titel: „Lager“ meint ein hingestelltes Nebeneinander, assoziiert Vorratsraum, Deponie, Depot: Es ist ein Aufbewahrungsort. Gelagert werden pseudo-funktionelle und defunktionalisierte Dinge; eine ins Absurde verkehrte Rampe, deren Konstruktion an die Bauweise archaischer Baugeräte anknüpft, stößt gegen einen dunklen verschließbaren Quader, dessen Dachseite aus ihrer Deckelfunktion wie durch einen Aufprall verschoben wurde. Nach Betreten der etwa achthundert Quadratmeter umfassenden Ausstellungshalle gelangt der Be- sucher zunächst zu dem innen- und außenwändig schwarz verkleideten Objekt, das wegen sei- ner nach hinten aufsteigenden inneren Bodenfläche an eine Rampe erinnert, wie sie ehemals zum Bau von Pyramiden oder Tempeln verwendet worden sein mochte. Die zwanzig Meter lange schluchtenähnliche Konstruktion wird jedoch an ihrer Oberseite von zwanzig querliegenden Stahlrohren überbrückt, so daß ein probeweises Benutzen der schiefen Ebene gedanklich schei- tern muß. Nach Abschreiten einer der beiden langen Außenwände schließlich ans Ende des Baurätsels gelangt, wird dem Betrachter eine mögliche Bedeutung der aufliegenden Rollen ge- wahr: Sie könnten als Konstruktion für den Transport der Deckplatte unentbehrlich sein, welche, noch halb auf den Rohren lagernd, bereits das zweite Ausstellungsobjekt zum Teil bedeckt. Das zweite Gebilde, das mit seiner Rückfront direkt an die Rampe stößt, erweist sich als Ver- schachtelung zweier ineinander gesteckter Kuben, von denen der äußere samtschwarz, der innere - wie auch die Deckplatte - in glänzendem Graphit schimmert. Die Innenkonstruktion die- ses Raumes ragt einen halben Meter über die Außenverkleidung hinaus, so daß die Doppel- wandigkeit schon von weitem erkennbar ist. Eine Glasscheibe gewährt Einblick in das Innere der Kammer, verhindert jedoch gleichzeitig deren Betreten. An den bleigrauen Innenwänden sind auf zwei gegenüberliegenden Seiten jeweils fünf verletzende Stahlspitzen in Augenhöhe angebracht.

Unwillkürlich offenbart sich hier die zweite Ebene des Projektes „Lager“ als Hort menschlicher Gefangenschaft und Todesdrohung (Menschenlager, Totenlager, Endlager). Dieses besondere „Lager“ als Teil des gesamten „Lagers“, dieses Lager im Lager ist eine verbotene Zone. Unklar bleibt jedoch, ob der Besucher oder die Kammer gesichert werden muß. So mag der Betrachter vor der offensichtlich drohenden Gefahr bewahrt oder aber der „heilige“ Ort vor dem Eindringen ungeweihter Besucher geschützt werden. Die Deckplatte scheint zum Zwecke einer hermetischen Abdichtung bereit zu liegen, der Vollzug des Verschließens lediglich unterbrochen worden zu sein. Eine suggestive Mahnung ist damit nicht nur als rückwärtige Erinnerung, sondern genauso als zukunftsweisende Drohung ausgesprochen. Die Erinnerung an das Vergessene kann nur gewaltsam aufgedeckt werden. Die transpolitische, magische Qualität des geschichtlich Vergangenen wird durch diesen futuristischen Aspekt gemäß der Theorie Walter Benjamins offenbar: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, ,wie es denn eigentlich gewesen ist’. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“9 Der mythische Sinn wird nicht nur durch die Verwirrung des Bewußtseins, sondern vor allem in der Nennung eines anonymen Verbrechens gewahr. Hier mag die Mischung aus Furcht und einer generativ vererbten, unbewältigten „deutschen Schuld“ als unausgesprochener Be- deutungsträger zur Potenzierung des Unwohlseins beitragen. Der verborgene Frevel wirkt im Gedächtnis der Betrachter noch über die Zerstörung hinaus nach. Die nähere Bestimmung des Titels „Lager 50°56’/6°57’ Nord/Ost“ verweist zudem auf die Existenz und Planung weiterer „Lager“. So war auch im schweizerischen Genf eine Arbeit vorgesehen, die in ähnlicher Weise die Thematik einer bedrohlichen Raumordnung als „Lager 46° 13’/6° 9’ Nord/ Ost“ aufnahm.

IV.
Durch die Gefahr, die das Projekt „Lager“ als Möglichkeit in sich birgt, erhält die Ausstellung end- gültig ihren Ereignischarakter. Das Erlebnis des Erhabenen wird in seinen Aspekten des Unheimlichen, des Großen und Überwältigenden auf den Punkt gebracht. „Dieses widersprüch- liche Gefühl, Lust und Unlust, Freude und Angst, Exaltation und Depression, ist im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts mit dem Namen des Erhabenen benannt und wiederbenannt worden.“10 Indem sich in der Kunst-Rezeption seit Kant die Aufmerksamkeit näher den Empfindungen als den Objekten zuwandte, trat besonders ein Zug aus dem komplexen Topos des ehrfürchtigen Schauders hervor: die Angst als Teil ästhetischer Erfahrung. Jene Wendung vom klassischen zum erschreckenden (romantischen) Erhabenen eröffnete die Einsicht in den zweifachen Charakter spezieller ästhetischer Phänomene als ergreifenden Schock. Dieses Erhabene ist durch die Unmöglichkeit einer Grenzziehung spürbar: Das „Erhabene muß in eine gewisse Dunkelheit gehüllt und der gemeinen Deutlichkeit entrückt sein“11. Das beschriebene Gefühl wird auch von dem Versagen der Einbildungskraft begleitet, sich das sinnlich Wahrgenommene in einer Einheit vorzustellen. Sie erweist sich als schwindelerregende Gratwanderung, bei der Denkvorgänge und Wahrnehmungen sich vermengen. Nach Kant sind nur solche Gegenstände „tauglich“, das Gefühl der Entgrenzung „anzureizen“, die „der Form nach gar zweckwidrig für unsere Urteils- kraft, unangemessen unserem Darstellungsvermögen und gleichsam gewalttätig für die Einbil- dungskraft“ sind. Seit das Vorbild des Schönen kunsttheoretisch seine Gültigkeit verlor, hat sich die ästhetische Reflexion in einer Umakzentuierung von der Werkauslegung zur Frage nach ästhetischer Erfahrung hin verlagert. Das Ereignis des Erhabenen besteht in dem Phänomen der

Überwältigung, „daß der Sehende dem Gesehenen wortlos gegenübersteht und unausweichlich ausgeliefert ist“12.

Unverkennbar bildet ein Projekt Ennepers die Inszenierung eines visuellen Ereignisses, das seine begriffliche Wiederaneignung verweigert und eine Verbindung von ästhetischer und außer- ästhetischer Zeitlichkeit realisiert. Die Drohung des Nichts lauert zwischen diesen beiden Momenten, die den Betrachter mit der Erfahrung einer zugleich als lustvoll und abstoßend emp- fundenen Auflösung seines Selbst konfrontiert. Er empfindet „ein Memento der Liquidation des Ichs, das als erschüttertes der eigenen Beschränktheit und Endlichkeit inne wird. (...) Das Ich bedarf, damit es nur um ein Winziges über das Gefängnis hinausschaue, das es selbst ist, nicht der Zerstreuung, sondern der höchsten Anspannung. (...) Für Momente (...) wird das Ich der Möglichkeit inne, seine Selbsterhaltung unter sich zu lassen, ohne daß es doch dazu ausreich- te, jene Möglichkeit zu realisieren“13.

Die Betrachter werden durch das Erlebnis der schockhafter Bedrohung der Entgrenzung und durch die Einbrüche in die verschiedenen Zeitebenen des Verdrängten das Gesehene in ihrem Gedächtnis vermerken. In dieser Weise bleibt die Essenz des Projektes als Wissen bestehen, auch wenn das Bauwerk wieder zerbrochen wird. Um aber die Aufnahme des idealen Sinnes zu ermöglichen, bedarf es der mühsamen und kostspieligen, sinnlich erfahrbaren Verwirklichung des Kunstwerks. „Das Sein bedarf desjenigen Seienden, das Dasein heißt, um offenbar zu wer- den.“14 Das Projekt wird als Botschaft fortexistieren im Erinnern und Weitersagen, es entbehrt dann als Idee der zeitlichen und erfahrbaren Begrenzung. So wird der Betrachter als Augen- zeuge des Ereignisses zum Übermittler des Wissens.

V.
In einer zweiten Weise wird der Rezipient ungewollt zum Augen-Zeugen (frz.: voyeur)15 mittels einer Lockung des Autors, der allen Projekten eine „Schlüsselloch“-Erfahrung ein gebaut hat. Durch die Öffnung, die einen Einblick in das Innere des Kubus gestattet, wird die Neugierde des Besuchers geweckt, das darin Verborgene zu beobachten. Die Einsicht in die nicht zugängliche Zone ist jedoch wegen ihrer schmalen Öffnung nur in vollkommener Isolierung des Betrachters möglich. Gestattet ist eine Begegnung mit dem inneren magischen „Sinn“ der Sepulkral-Architek- tur nur dem Individuum in seiner einsamen Vereinzelung. Mic Enneper nötigt so den Neugierigen zu einer in der kollektiven Lebenswelt vielfach verdrängten Grenzerfahrung angstbesetzter Einsamkeit. Der Blick in die nichtende Dunkelheit und das langsame Gewahrwerden rätselhaf- ter und stygischer Gegenstände, die in einer Position des Wartens zu verharren scheinen, beantwortet jäh die erwartungsvolle Fragehaltung mit existenzieller Furcht. „In der Angst befindet sich das Dasein vor dem Nichts der möglichen Unmöglichkeit seiner Existenz.“16 Ohne daß der Betrachter in der Lage wäre, seine widersprüchlichen Gefühle in der Situation des Aus- geliefertseins zu realisieren, verspürt er den quälenden Sog einer bitteren Ahnung: „Der Tod ist nicht meine Möglichkeit, Anwesenheit in der Welt nicht mehr zu realisieren, sondern eine jeder- zeit mögliche Nichtung meiner Möglichkeiten. (...) Es ist widersinnig, daß wir geboren sind, es ist widersinnig, daß wir sterben.“17

VI.
Die Wandarbeiten Ennepers bilden Kompositionen reliquiaren Charakters. Die vier bis acht Meter breiten Monumentalobjekte sind der Form mittelalterlicher Flügelaltäre nach empfunden. Die Werkserie „Material-Schatten“ umfaßt drei Arbeiten aus dem Jahr 1989. Auch diese Werke schuf der Künstler je für eine spezielle Raumsituation: Die formalen Maße der Objekte wurden bemes- sen an den Gegebenheiten der vorgefundenen Räume, jeweils nur ein Objekt wurde den Raum beherrschend installiert. Diese Arbeiten müssen nicht wegen technischer Gründe bei ihrem Abbau zerstört werden, jedoch ist ein wiederholtes Zeigen der Kunstwerke nur unter bestimm- ten räumlichen Qualitäten möglich.
Dem unterschiedlichen räumlichen Umfeld gemäß konzipierte Enneper eine drei-, eine sieben- und eine neunteilige Arbeit. Bei allen sind großformatige stählerne Tafeln beidseitig einer räum- lich hervortretenden Mitte zu einem Block arrangiert. Je nach Anzahl der Tafeln entfalten die Objekte durch Wiederholung gleicher Anteile einen spezifischen Rhythmus; die vollkommene Symmetrie vermittelt einen Akkord harmonischer Komposition. Die hochpolierten, blauschwarz schimmernden Stahlplatten umrahmen das in den Raum hervorragende Mittelstück, das einem puristisch gearbeiteten Reliquiar gleicht. In einem speziell eingelassenen Schaukasten, der mit einem Vitrinenglas verschlossen ist, befindet sich statt der körperlichen Überreste eines Heiligen oder eines ihm zugewiesenen Gegenstandes ein Relikt aus einer früheren Arbeit Ennepers, ein Fragment eines grob zersägten Raumprojektes (lat.: „reliquiae“ - Zurückgelassenes, Überrest18). Dieses Prinzip wird bei allen drei Wandarbeiten in verschiedenen Alterationen wiederholt. Der Schrein ist einmal mit einer, von einem stählernen Rahmen umfaßten, marmorierten Wachstafel gearbeitet, ein anderes Mal ganz aus Stahl geformt; in der dritten Weise wölbt er sich pyrami- denförmig dem Betrachter entgegen und wirkt wie mit fein gegerbtem Leder überzogen. Die klei- nen, schwarz oder mit Graphit pigmentierten Überreste der Raumprojekte wurden zentriert auf dem schwarz gefärbten Hintergrund der Vitrine angebracht; dem Betrachter sind teilweise die ungesäuberte Seite der Holzkonstruktion und rohe Sägeschnitte einsehbar. Ein solches Versatz- stück entbehrt im Gegensatz zu seiner hochveredelten Einfassung jeglicher Aspekte wohlgeformter Schönheit und Proportion. Einem heiligen Gegenstand gleich scheint er in seiner vorgefundenen rohen Daseinsform zu einem unnahbaren Objekt erhoben, das zum Zwecke der Verehrung in seiner kostbaren Verschalung aufbewahrt wird.

Durch die so aufbereitete Mitnahme eines „Schattens“ aus der Vergangenheit führen diese Wandobjekte eine bis zum Verehrungskult gesteigerte Selbst-Historisierung vor. In einem selbst- referentiellen Akt befruchtet sich die künstlerische Potenz durch Rückbezug auf sich selbst. Der Blick des Betrachters wird auf das Vergangene und Vergessene gelenkt, dessen Reste frag- mentarisch die Zeit überdauern. Dem nicht Eingeweihten bleibt die Struktur dieses Auto-Kultes verborgen, doch ist ihm ebenso der Appell an das Erinnern spürbar. Auch die Wandarbeiten rühren an das Moment der Verdrängung des Vergangenen und erinnern an das Vergessen des Vergessens. Die präsentierten Fragmente fungieren als Bedeutungsträger einer verschütteten Achtung vor dem Gestrigen. Mic Ennepers Objekte denunzieren die Gewohnheit unseres reissenden Zeitalters, das in zunehmend maßloserer Geschwindigkeit Vergangenes mit Gegen- wärtigem gleichwohl in den vernichtenden Strudel hinabwälzt, um an ihrer Statt eine wahnhafte Leere zu installieren.

VII.
Mic Enneper intendiert als Hauptkonzept seiner Arbeit, eine Stätte des Geistes zurückzuerobern. Sowohl seine Wandobjekte als auch die Raumprojekte inszeniert er in der Weise, daß der umge- bende Raum eine magisch-geistige Aura entfaltet. Wie in früheren Jahrhunderten ein Tempel oder eine Kirche erbaut wurde, um dem Geist (einem Gott) seine Wohnstätte zu geben, so gestaltet der Künstler seine Räume als „heiligen Ort“. In einer Zeit profaner Massenarchitektur wurde der Bau einer zweckfreien Architektur, die lediglich dem Geist vorbehalten bleibt, bis zum Verschwinden unterdrückt. Trotz einer derzeitigen Beliebtheit an räumlicher Gestaltung scheint das Gefühl für ein geistiges Szenarium verlorengegangen. Für Mic Enneper bedeutet die Wiederaufnahme des Geistigen den Sinn seines Kunstschaffens; er hofft, damit seinem Publikum einen Zugang zu einer stilleren Welt zu bereiten. Der Verlust des Strebens nach Metaphysik sowie die Verstümmelung von Wissen zu Information führten zum Verschwinden möglicher erfahrbarer Transzendenz. Der Mensch hat seine Bezüge zum ideellen Sein verloren und sein Dasein auf den vordergründigen Sinn säkulärer Werte eingerichtet. Die Sorge um das Ver- schwinden des Geistigen aus allen Lebensbereichen des Menschen bestimmt die Motivation Mic Ennepers, dessen Verdacht mit der Frage Heideggers zu formulieren sich anbietet: „Wie, wenn das Ausbleiben des Seins den Menschen immer ausschließlicher dem Seienden überließe, so daß der Mensch vom Bezug des Seins zu seinem Menschenwesen verlassen und diese Verlassenheit zugleich verhüllt bliebe? Wie, wenn die Zeichen dahin deuteten, als wolle diese Verlassenheit sich zukünftig noch entschiedener in der Vergessenheit einrichten?“

Anmerkungen:

1 Günter Schulte: Nietzsche und die Postmoderne. Von der vorgeblich heiteren Inexistenz des Menschen, in: ders.: Hauptsache Philosophie. Ansprachen und Aufsätze über Kunst und über Wahrheit, Kap. III.9., Köln 1987, S. 160
2 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1974, S. 461

3 Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft I, Frankfurt/M. 1983, S. 10
4 Dietmar Kamper: Kierkegaards Ende. Oder die endgültige Inversion des Opfers, in: ders.: Zur Geschichte der Einbildungskraft; München, Wien 1981, S. 200
5 Grimsehl: Physik II. Grundgesetze, Modelle, Theorien, Stuttgart 1976, S. 174
6 zitiert nach Kamper, Einbildungskraft, a.a.O., S. 253
7 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie; Frankfurt/M. 1973, S. 35
8 Martin Heidegger: Bauen, Wohnen, Denken, in: ders., Die Frage nach dem Ding, Tübingen 1975, S. 20
9 Walter Benjamin, zitiert nach H. Th. Lehmann: Das Erhabene ist das Unheimliche, in: K. H. Bohrer (Hrsg.): Das Erhabene nach dem Faschismus, Merkur Sonderheft, 43. Jg., Sept/Okt. 1989, S. 751
10 Jean-Francois Lyotard: Das Erhabene und die Avantgarde, in: Kunstforum International Nr. 75, Sept/Okt. 1984, S. 122
11 F. T. Vischer, zitiert nach Lehmann, a.a.O., S. 751
12 Imdahl, zitiert nach Lehmann, a.a.O. S. 760
13 Th. W. Adorno, nach Lehmann, a.a.O. S. 763
14 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1979, S. 42
15 Fremdwörterlexikon, hrsg. von Gerhard Wahrig, Gütersloh 1979, S. 78
16 Jean Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbeck 1985, S. 78
17 Ebenda
18 Fremdwörterlexikon, a.a.O., S. 547
19 Heidegger, Sein, a.a.O., S. 423