CONSILII EXPERS ES von Claudia Schink

"Die Sicherheit des Zuschauers ist durch die Gestalt des bösen Genius bedroht, der ihn ins Meer stürzen könnte ..." Hans Blumenberg*

1.
Das Schauspiel verlangt nach einem Beschauer, und jeder Zuschauer will ein Ereignis bestaunen. Die Position des Zuschauers wird vor allem durch seinen Standpunkt der Distanz und seine Kenntnis, die er durch das Sehen erhält, bestimmt. Der Augenbeweis des Schauens macht ihn zum Mitwissenden, zum Augenzeugen. Der Kenntnistragende kann sich dem Gesehenen nicht mehr entziehen, denn "wer mehr sieht, trägt mehr Last." Die Distanz zu dem Gegebenen ist das entscheidende Moment, das dem Zuschauer Reflexion ermöglicht, aber auch ein Wohlgefühl vermittelt. Der Betrachter genießt nicht nur die Annehmlichkeit, die dem Anblick als solchen zugeschrieben wird, den Genuß des eigenen unbetroffenen Standortes. Das Bewußtsein seiner selbst wird gegenüber dem Gesehenen aktiviert; der Zuschauer sieht den Weltenstaub, aus dem alles besteht, was er betrachtet, einschließlich ihm selbst. "So führt der Mensch ein Doppelleben, ein konkretes und ein abstraktes. In dem einen ist er allen Stürmen der Wirklichkeit und dem Einfluß der Gegenwart preisgegeben, in dem anderen steht er neben, wenn nicht über sich selbst, vor dem verkleinerten Grundriß seines Lebensweges. Aus dieser Distanz erscheint ihm für den Augenblick fremd, was ihn dort ganz besitzt und heftig bewegt: hier ist er bloß Zuschauer und Beobachter."

Der Zuschauer ist nicht ohne Fühlen bei dem, was er sieht und hört. Aber es macht ihm doch angenehme Empfindungen, sein Mitleid durch eine beobachtbare Katastrophe aufgeregt und ins Spiel gesetzt zu sehen, sofern sein Standpunkt ungefährdet bleibt. Zu jener Empfindung von bösartigem Wohlbehagen berechtigt den Zuschauer nicht sein Recht auf Genuß, sondern seine durchaus als boshaft qualifizierte Befriedigung des Erfolges seiner Selbsterhaltung. "Er steht kraft der Befähigung zu dieser Distanz ungefährdet da und überlebt durch eine seiner unnützen Eigenschaften: Zuschauer sein zu können. Sein Behagen ist eine Art List der Natur, das geringste Risiko des Lebens positiv zu bestärken, Distanz durch Lust zu belohnen."

In der Reflexion über das Geschaute, das ihn selbst mit einschließt, übersteigt sich der Zuschauer zum transzendentalen Zuschauer. Im Gefühl des Erhabenen findet jenes Doppelleben des Subjekts seinen reinsten Ausdruck. "Es verbindet angesichts der mächtigsten Erscheinungen der Natur das Bewußtsein von Selbstgefährdung und Selbststeigerung, indem es sich aus der Identität mit dem Lebenswillen loslöst und die Ruhe der Anschauung trotz der Bedrängnis der nackten Existenz erlangt." Dessen Distanz zum Ungeheuerlichen der Natur ist nicht mehr die des gesicherten Ortes, sondern der Standpunkt des Selbstbewußtseins, dem dies alles zu seiner Vorstellung geworden ist. Durch die Verlegung des erhabenen Spiels von der Natur in den Schauraum ist der Zuschauer ästhetisch geworden. Hier wird die geforderte Distanz von Sicherheit und Gefahr als eine künstliche Situation inszeniert. Das Miterleben des Zuschauers wird dabei bisweilen als so intensiv vorausgesetzt, daß er an seine Unbetroffenheit gleichsam erst erinnert werden muß.

2.
Betritt ein Besucher der Ausstellung "Arena" die Halle des Kunstvereins Ludwigshafen, blickt er gegen die Unterseite einer überwältigenden Konstruktion aus Stahlrohren und Planken, die ihm den freien Blick in den Raum versperrt. Nach Umschreiten dieses massiven Hindernisses gelangt er an die Vorderseite einer aus Gerüstbauelementen errichteten Tribüne, wie sie für größere Freiluftveranstaltungen benutzt werden könnte. Der Anblick einer solchen Konstruktion erweckt die Erwartung auf ein Ereignis vor einer größeren Zuschauermenge, doch nichts deutet auf ein Spektakel hin.
Läßt der Besucher den Blick die Stufen der Tribüne hinaufgleiten, so wird er über ihrer obersten Ebene einer offenen Luke im dem rechteckig gegliederten Raster der angehängten Decke gewahr, deren Ausmaß sich jeweils nur für einen Betrachter eignet. Folgt er dem Impuls seiner Neugierde, steigt er die Stufen der Tribüne hinauf, um Einblick durch diese Öffnung zu erlangen. Dort entdeckt er überraschend den großen Hohlraum eines ansteigenden Tonnengewölbes, welches das eigentliche Dach des Ausstellungsgebäudes bildet; in dessen Leere wurden die technischen Aufhängevorrichtungen der Zwischendecke installiert neben herabhängenden antiquierten Gasleuchten, die ein grünliches Licht verstrahlen.
In dem Augenblick, da der Schauende einen nahe der Öffnung befindlichen Rotoren erblickt, beginnt dieser durch einen Bewegungsmelder motiviert zu kreisen. Insgesamt sieben Rotoren installierte Mic Enneper auf der Oberseite des Deckenrasters. Die kühle Atmosphäre des rein nach kausalmechanischen Prinzipien funktionalisierten Hohlraums über der Zwischendecke, in den zuvor niemals ein Ausstellungsbesucher Einblick hatte, verändert sich durch die in Bewegung geratenen Rotoren. Deren Beschleunigung scheint zu besagen, daß die Situation sich einer Katastrophe nähert, ohne daß die Gefahr näher bestimmt werden könnte.
Der Moment, da der Betrachter seinen Blick über die Ausstellungsdecke schweifen läßt, verändert seine Position innerhalb des gesamten Gefüges: Während die große Tribüne ihn als Teil einer imaginären Zuschauermasse erscheinen läßt, wird er durch seinen Blick über die Ausstellungsdecke hinaus plötzlich von dem bisher erlebten Szenarium und von den übrigen Betrachtern zugleich isoliert.
Mit dem Abtauchen des Betrachters zurück in den Ausstellungsraum schalten sich die Rotoren automatisch ab; während dieser die Empore hinabsteigt, klimmen andere Besucher die Stufen hinauf, von ihrer Neugierde getrieben.

Die Ausstellung im Ludwigshafener Kunstverein ist an den Zuschauer per se adressiert: Eine aufgestellte Tribüne gilt einem jeden Besucher als die Ankündigung einer Vorführung, bei der er einen erhöhten Platz erhält, in eine Betrachterposition gehoben und damit als Zuschauer erhoben wird. Der Titel "Arena" wird mit einer gewissen Größe des Tribünenraumes und einer großen Zuschauermenge konnotiert, wobei diese Menge der Betrachter ein Kollektiv bildet; der einzelne Gast ist Teil eines Ganzen.

Der bespielbare Raum vor der Tribüne als ihre Arena bleibt jedoch leer und das Kollektiv der Betrachter imaginär. Jeder Besucher wird stattdessen zu einer gewissen Aktivität motiviert, durch welche er seine Haltung der Distanz verläßt und die ihn als Handelnden individualisiert. Indem er über die Decke hinausblickt, wird die gemeinsame Position mit den übrigen Betrachtern im Raume verlassen, eine radikal andere Ansicht isoliert den am meisten Erhöhten. Während sein Haupt sich in einer anderen Situation befindet, weilt dessen Leib noch auf der Tribüne: Der Betrachter ist nicht mehr Kopf und Körper, sondern der Geist ist als vereinsamter vom Körper als Teil des Kollektivs getrennt. Entpersonifiziert wird der Rezipient auch von den übrigen Besuchern wahrgenommen, als kopfloses Geschöpf.

3.
In der zeitgleichen Ausstellung "Dock 1" von Mic Enneper in der Kunsthalle Mannheim erhält der Zuschauer ebenfalls eine besondere Position, wenn auch auf eine sehr unterschiedliche Weise. Zwischen den beiden Präsentationen besteht eine Art gleichpolige magnetische Klammer, trotz aller Gegensätze bilden sie ein Paar.

Das "Dock" bezeichnet eine "Beckenanlage zur Trockenlegung von Schiffen", in welcher mit hydraulischen Kräften Dynamik und Bewegung erzeugt wird. Mic Enneper verwendet den Begriff für eine neue Werkserie, die mit der Installation in der Kunsthalle Mannheim beginnt; die Assoziationen von bewegten Objekten und kraftvollen Maschinen gehen auf das Projekt über.

Zwei schwarze, aus einer Holzrasterung konstruierte Quader von je zwanzig Metern Länge lagern fast diagonal übereinander im Ausstellungsraum der Kunsthalle, deren gesamten Luftraum sie damit einnehmen, wenn auch die großzügige Rasterung der Konstruktion den Ausstellungsraum nicht opak verschließt. In ihnen geschachtelt ruht auf elf Metallrohren jeweils wie ein Kolben ein gleichlanger, ebenfalls gerasterter Quader von metallischer Farbe, worin wiederum je ein schwarzer fahrbarer Block von neunzig Kubikzentimetern an Metallschienen hängt. Ein solcher durchquert innerhalb von sieben Stunden einmal den Innenquader; seine Geschwindigkeit ist derart gering, daß sie vom Betrachter wie die Bewegung eines Minutenzeigers mit seinen Augen kaum wahrnehmbar ist, nur ein vernehmbares Surren verrät die Aktivität der Maschinen; erst durch eine längere Verweildauer im Raum kann die langsame Verschiebung der zwei beweglichen Objekte beobachtet werden. Die gewaltige Konstruktion scheint eigens dafür angelegt zu sein, diese Minimalbewegung zu bewirken. Der große Materialaufwand zur Erzeugung einer so geringen Mobilität vermittelt dem Rezipienten den Eindruck einer sinnentleerten Absurdität.

"Dock 1" ist nach den Werkgruppen "Lager" und "Laboratorium" das erste Projekt Mic Ennepers, in welches der Rezipient nicht direkt als aktiver Beobachter oder als unfreiwillige Versuchsperson mit einbezogen wird. Die von ihm beobachtete Maschine schein ein "auto mobile" zu sein und für sich selbst zu agieren. Der Besuch der Ausstellung gleicht dem einer Produktionshalle, in der effiziente Maschinen etwas erzeugen oder verschieben; doch dem Betrachter des "Docks" sind Zweck und Wesen der Geräte nicht einsehbar. Von dem höhergelegenen Standpunkt der Empore wahrgenommen gleichen die Baukörper einer Brückenkonstruktion, über welche die schwarzen Blöcke von einem Ende zum anderen gelangen können. Diese abstrahierende Vorstellung vermag jedoch wegen der unendlich geringen Bewegung nur der länger verweilende Betrachter zu leisten.

Jener maximal verlangsamte Prozeß der Fortbewegung täuscht einen zeitlichen Stillstand vor, der ein ausgedehntes Gegenwartsgefühl suggeriert. Da das Vergehen von Zeit nur durch Formen der Bewegung oder Veränderung bezeugt werden kann, scheint sich der Betrachter in einem ausgedehnten Jetztmoment zu befinden. Das Gefühl einer Sinnlosigkeit stellt sich rasch ein, wenn die Zeit, welche immer auch verfließende Lebenszeit bedeutet, nicht in Geschehen oder Erlebnissen, Bewegung und Betriebsamkeit verwandelt wird. Jedoch bedeutet gerade das notorische Überspielen der verlaufenden Zeit eine Verdrängung der Angst, welche für den Menschen mit der ablaufenden Lebenszeit verbunden ist. Indem Mic Enneper dem Betrachter diese Abenkung vorenthält und ihn mit einer offenbar absurden Situation konfrontiert, wird die vertane Zeit paradoxerweise gerade in ihrem scheinbaren Stillstand als solche wahrgenommen und verschafft dem Rezipienten das unangenehme Gefühl seiner eigenen Fragwürdigkeit angesichts der Kürze seiner Existenz.

In der Mannheimer Präsentation wird der Betrachter als Teilnehmer der Inszenierung ausgeschlossen, er verharrt in der Position des passiven Zuschauers, der auch durch ein Betrachten von verschiedenen Standpunkten aus nichts weiteres über einen möglichen "Sinn" der Konstruktion erfährt. Die Mechanik der beweglichen Körper agiert losgelöst von ihm, das Kunstwerk bleibt autonom und unterliegt nicht seiner Einflußnahme. Auch bewegen sich die kinetischen Objekte zu langsam, als daß ihre fortschreitende Bewegung innerhalb einer kurzen Dauer durch den gewöhnlichen Blick eines Betrachters wahrgenommen werden könnte.

Erstmalig, seitdem Mic Enneper großformatige Projekte innerhalb der gegebenen Ausstellungsräume inszeniert, gelangt der Betrachter bei der Installation "Dock 1" nicht in eine Position, die ihn gezielt vereinzelt. Alle Besucher bleiben in ihrem Kollektiv der distanzierten Beobachter vereint, ihr Voyeurismus wird nicht privatisiert und personifiziert, ein individuelles Verhalten ist nicht vorgesehen. Jeder Betrachter steht unter der ständigen Kontrolle aller übrigen Ausstellungsbesucher, und dem eigentlichen Geschehen bleibt er seltsam fern, so findet er sich als Teil einer Zuschauergruppe wieder, die einer Agitation, einem Schauspiel beiwohnt, daß sich jedoch nicht beobachten läßt. Soweit die Maschinerie die Rolle der Darstellung übernimmt, so scheint es, passiere etwas, aber es geschieht "nichts": Das kollektive Gemeinschaftsgefühl bleibt leer.

In einer radikal umgekehrten Weise als in Ludwigshafen verweigert der Künstler dem Besucher in Mannheim das Gefühl einer Befriedigung, einer Lust am gemeinschaftlichen Schauen und Erleben. Wie dort der Besucher in dem expliziten Moment des besonderen Erlebnisses unweigerlich vereinzelt, ja gleichsam abgetrennt von der Gemeinschaft wird, so verbleibt hier zwar jeder Betrachter in der Menge ereignisbegehrender Gleichgesinnter, jedoch bleibt deren Bedürfnis unerfüllt. So verweigert der Künstler dem Betrachtenden jede Möglichkeit einer Vereinnahmung seiner Werke, denn auf der einen Seite bleibt das Sensationsgefühl des Besuchers einsam, auf der anderen Seite der Erlebnishunger des Kollektivs leer. Mic Enneper wendet sich damit gegen den Genuß eines Gruppengefühls, einer Zusammengehörigkeit seiner Zuschauerschaft. Die Kollektivierung von Personen bedeutet zugleich deren Instrumentalisierung und Kontrollfähigkeit, womit die Gefahr ihrer Unmündigkeit wächst. Nur wer sich von der Menge absondert und in die Einsamkeit begibt, dem schenkt der Künstler den Moment eines besonderen Erlebnisses, das dieser für sich allein empfinden kann. Damit verweist Mic Enneper indirekt auf die Position desjenigen hin, der sein Werk in einer konzentrierten Zurückgezogenheit entwarf: auf sich selbst. Indem er dem einzelnen Betrachter seine besondere Aufmerksamkeit widmet und diesen mit der Intimität eines Augenblicks belohnt, während er dem Zuschauerkollektiv jeglichen sensatorischen Genuß verweigert, beschwört der Künstler eine Art Begegnung zwischen sich und dem isolierten Betrachter. Der Charakter dieser besonderen Nähe zum Autor ist es, welche den Geheimnischarakter bewahrt, der sich jenen expliziten Situationen, in die hinein sich ein Betrachter wagt, beigesellt. Intimität und Geheimnis bilden zwei wesentliche Komponenten, die dem Rezipienten, der sich in die Vereinzelung begab, das Gefühl eines besonderen Rausches, einer Befriedigung und des Glückes bescheren.

Dieses solitäre "Glück", das Mic Enneper dem einsamen Betrachter gewährt, bleibt nicht ohne Risiko. Glücklich ist der Zuschauer, in seiner Vereinzelung etwas beschauen zu können, das in diesem Augenblick nur ihm zu gelten scheint. Jedoch unheimlich kann die Offenbarung sein, die ihn bei dieser Schau erwartet. Indem der Betrachter der Verlockung

des Künstlers nachkam und sich in eine Intimität, eine dialogische Situation zu diesem begab, spielt Mic Enneper seine Macht der Vorausschau aus.
Nicht nur verhindert der Künstler demnach eine Inbesitznahme seines Werkes durch eine Betrachtermenge, sondern in dem Moment der Zerstreuung des Kollektivs vereinnahmt er den individualisierten Gast. Mic Enneper inszeniert ein Spiel mit der Neugierde des Betrachters, mit seiner Lust auf "Sensation", mit der Sinneserregung dieses Voyeurs. Radikal vertauscht er die gängige Konstellation von Zuschauer und Schauspiel: Der Rezipient ist es nun, der gleichsam vom Künstler "betrachtet" wird, dessen Reaktionen er in seiner Konzeption vorausberechnet hatte. Aus dem passiv distanzierten Zuschauer wurde ein Akteur, der sich in seiner Neugierde selbst in Gefahr begab.

4.
In der Trilogie "Der Schatten - Die Nacht - Das Projekt", einer Werkserie, welche Mic Enneper 1984-86 in den unterirdischen Wehrgängen einer alten Befestigungsanlage im Kölner Stadtraum installierte, wurde der Betrachter mit einer Taschenlampe vollkommen allein vom Künstler in die finsteren Gänge geschickt. Während der gesamten Verweildauer blieb der Eindringling körperlich umschlossen von der Dunkelheit, seine Wahrnehmung beschränkte sich auf die eigenen Schrittgeräusche und jene rätselhaften visuellen Erscheinungen, die unter dem fahlen Schein der Lampe aufleuchteten. Jene Gebilde waren Relikte, welche teils von Kohlenstaub geschwärzt auf den Künstler verwiesen. In einem der drei Schächte stieß der Besucher zuletzt auf eine am Boden kauernde Gestalt mit seltsam verschuppter Oberfläche und pyramidenartigen Verwachsungen auf dem Rücken, einem in ewiger Dunkelheit verharrenden, gleichsam verwesenden Abguß des Körpers des Künstlers. Hier fand die imaginäre Begegnung zwischen dem Künstler und einem einsamen Besucher beinahe greifbar statt, wie sonst nie wieder.

In den späteren Installationen reduzierte Mic Enneper das intime Interieur immer mehr zu abstrakten Zeichen oder anonymen Maschinen. In der ersten Formation der Trilogie "Der Schatten - Die Konstruktion - Das Material" von 1987 mußte sich der Betrachter auf eine Stufe stellen, um durch ein kleines Fenster Einblick in das Innere eines monolithischen Quaders zu erlangen. Im Inneren des schwarzen Blocks wurden ihm matt beleuchtete Metallkegel sichtbar. Leise Schrittgeräusche zogen den Betrachter auch auditiv hinüber in eine ausgegrenzte magische Welt. Im dritten Teil dieser Trilogie 1988 in der Kunsthalle Baden-Baden hatte der Künstler in einem schwarzen Kubus Abdeckroste von Lüftungsschächten als Zwischenboden eingezogen, dessen Lichtreflexe von der einzigen luziden Quelle des Einsichtsfensters erst langsam dem Auge deutlich wurden. Die symbolischen Objekte im Innern der Baukörper deuteten in einer magischen Relation auf frühere Arbeiten des Künstlers, welche als Verweise auf ihn selbst erahnt werden können. Hier wurde der Rezipient ungewollt zum Voyeur, der durch ein kleines Sichtfenster die "Schlüsselloch"- Erfahrung machte. Durch jene Öffnung wurde die Neugierde des Besuchers geweckt, das darin Verborgene zu beobachten. Die Einsicht in die nicht zugängliche Zone war jedoch wegen ihres schmalen Glases nur in vollkommener Isolierung des Betrachters möglich. Gestattet wurde eine Begegnung mit dem inneren magischen "Sinn" der Architekturen nur dem Individuum in seiner einsamen Vereinzelung. Mic Enneper nötigte so den Neugierigen zu einer in der gemeinschaftlichen Lebenswelt vielfach verdrängten Grenzerfahrung angstbesetzter Absonderung. Der Blick in die nichtende Dunkelheit und das langsame Gewahrwerden rätselhafter und verletzender Gegenstände, die in einer Position des Wartens zu verharren schienen, beantworteten jäh die erwartungsvolle Fragehaltung mit existenzieller Furcht.

Im Projekt "Lager 51° 2'/7° 2' Nord-Ost" von 1993 erwartete erstmals eine Maschine den Ausstellungsgast. Innerhalb einer an Katakomben erinnernden Architektur hatte Mic Enneper einen schwarzen Kubus installiert, welcher wiederum von einer Seite durch ein Sichtfenster einsehbar war. Ein aus schwarzem Gummi gefertigtes Förderband lauerte in einem dunklen Schlund wie ein Tier in seinem Versteck. Die Laufrichtung des Bandes führte vom Betrachter weg, Dunkelheit verschluckte sein Ende. Die vom Standpunkt des Rezipienten ausgehende Bewegung des Bandes übte auf diesen einen Sog aus, der ihn in die Unendlichkeit des dunklen Nichts zu ziehen drohte, in welches sein Laufen mündete. Genau ihn, der vor ihm stand, schien das Laufband in dieses Nichts befördern zu wollen. Dem Schauenden eröffnete sich die Vision eines großen Grabmals, in dessen Inneres er unversehens geraten war, und dessen Bestimmung gerade ihn zu meinen schien. Plötzlich wurde die Ausstellungssituation als persönlich und gegenwärtig empfunden, die jeden ihrer Besucher mit einer Drohung konfrontierte. Inhaltlich kanalisierend wirkte die beengende Hermetik des "Lagers" mit seiner architektonisch vorgenommenen Steuerung des Begehers. Dieser geriet zu einem Probanden, in welchen die psychologische Wirkung des Kunstwerkes eindringen sollte. Unversehens verlor der Betrachter seine vermeintlich neutrale Position und wurde zum Teilnehmer eines Versuches.

Diesem Kunstgriff widmete Mic Enneper seinen Werkkomplex "Laboratorium", dessen "Versuchsreihen I-V" geschahen in den Jahren 1991 bis 1997. Der Werktitel "Laboratorium" ließ den Besucher erahnen, daß an dem Ausstellungsort etwas geschehen, eine Untersuchung stattfinden, daß dort an etwas gearbeitet würde. Der Interessent erhielt zudem den Hinweis, es handele sich um eine Reihe von Versuchen: Ihm wurde ein empirisches Verfahren angedeutet, bei welchem mehrere Versuche durchgeführt wurden, um zu einem erfahrungsbedingten Ergebnis mit relativer Gewißheit zu gelangen.

Auch hier wurden die Wege der Betrachter über architektonische Eingriffe auf die vom Künstler vorgedachten Bahnen gelenkt, wobei Mic Enneper auf den Eingriff der Vereinzelung verzichtete. Rein äußerlich verband die verschiedenen Projekte die Verwendung von schwarzem Tuch, unter welchem Mic Enneper seine sonst nackten monolithischen Architekturen verbarg.

Betrat der Rezipient erwartungsvoll einen solchen Ausstellungsraum, interpretierte er das verhüllte Objekt als den Ort des Labors; er vermutete eine Versuchseinrichtung im Innern des verhüllten Kubus und wähnte, er selbst könne als unbeteiligter Beobachter die Szene betreten. Er vermeinte, von einer höhergelegenen Perspektive aus einer künstlerischen Anordnung, ihrem Vorgang und den Ergebnissen der Versuchsreihe einsichtig zu werden; er glaubte sich als Empfänger einer vom Künstler ausgesandten Botschaft, und er verstand sich als gleichberechtigter, reflektierender Antwortgeber, als potentieller Partner und Mitwisser des Künstlers.

Mit dieser Vermutung begab sich der Besucher in das Innere der mit dem Tuch verhangenen Kammer; doch in jenem höchsten Augenblick der Neugierde wurde er jäh zurückgestoßen: Den Eintretenden erwartete eine abweisende Kälte, ausgehend von silbrig schimmernden Wänden; sein Schritt bewegte sich unsicher auf Metallrosten, unter denen sich eine undefinierbar schwarze Tiefe auftat; aus Öffnungen und Löchern schien Gefährliches zu entweichen. Mit Beklemmung ahnte der Betrachter, daß er selbst als Material dem angekündigten Versuchszweck diente, daß er unfreiwilliger und ungefragter Proband dieser Versuchsanstalten geworden war. Seiner Souveränität beraubt sah er sich plötzlich zum Objekt des Künstlers degradiert, eine Erfahrung, die als eine Provokation erlebt werden konnte. Auf diese Weise geriet unerwartet jeder Ausstellungsbesucher zu einem Teil des

Versuches, er war ganz wesentlich das Versuchsmaterial; keine Person, die den Ort des Laboratoriums betrat, konnte sich dieser Bestimmung entziehen. Nun wurde offenbar, daß die gesamte Inszenierung einer Versuchsreihe das "Laboratorium" bedeutete, das Verhalten eines jeden Zuschauers stand zur Beobachtung. Der Rezipient war Gefangener dieser Situation; wie er sich auch verhalten mochte, seine Reaktionen bildeten das Kernstück des Versuches: er zählte zu der Gruppe entindividualisierter Personen, welche die "Versuchsreihe" ausmachten.

5.
Besonders markant offeriert die Verschiebung der Betrachterposition nun die Installation "Arena", deren erstes und augenfälligstes Merkmal ausgerechnet eine Zuschauertribüne ist. Neben der architektonischen Dichte, die jene Konstruktion vermittelt, und vielleicht sogar mittels ihrer Erhabenheit wird die Tribüne zu einer Verlockung. Diese ihrer Bestimmung zuzuführen und dem Zuschauer seine rechtmäßige erhöhte Position zu geben, ist eine Verführungslist, mit welcher der Künstler den Ausstellungsbesucher umwirbt. Dessen Begierde, zum Obersten zu gelangen, die höchste Position zu erreichen und zum besonderen Schauen auserwählt zu sein, läßt ihn die für ihn vorgezeichnete Bahn des Künstlers betreten und seiner Strategie verfallen. Auf der obersten Stufe angelangt, schneidet ihm seine Neugierde buchstäblich den Kopf ab. Die Blicke des Betrachters überspringen die Grenzen des Raumes und damit das ihm bekannte und gewohnte Terrain. Jetzt jedoch verraten Bewegungsmelder seine Ankunft, der Rezipient wurde "erfaßt". In Beschleunigung geratene Rotoren durchbrechen die bisherige Stille der Ereignislosigkeit und scheinen ihn wirklich enthaupten zu wollen, sollte er es wagen, in den oberen Raum weiter vorzudringen. Gefahr statt Lust heißt hier das Glück des Betrachters, Auge in Auge mit dem Geheimnis zu stehen. Die Intimität der Situation läßt ihn schaudern, nicht erwärmen.

Des Zuschauers Gegenstück bleibt derweil die Maschine. Der Betrachter erschaut nicht seinesgleichen, tritt nicht in Dialog mit einer realen Person, sondern er trifft auf anonyme Geräte, welche in gänzlich entmenschlichter Weise die Absicht des Künstlers vertreten. Somit wird der Zuschauer doppelt isoliert in seinem Wunsch nach einem Schauspiel, das seine Sinne stimuliert, nach einer dialogischen Situation. Das beschleunigte Rotieren, das sinnlose Prozessieren seelenloser Geräte beantworten nicht sein Sehnen, die Maschinen sind ihm nicht Partner, sondern Feind. Deren Unmöglichkeit der Kommunikation und Interaktion und ihre zugleich funktionale und rücksichtslose Perfektion weisen den Betrachter in seiner menschlichen Regung als defizitäres Wesen zurück.

* alle Zitate aus:
Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetropole, Frankfurt 1979.

Erstveröffentlichung in:

Mic Enneper, ARENA / DOCK I, Katalog, Kunstverein Ludwigshafen am Rhein / Städtische Kunsthalle Mannheim, 2001.

Copyright © Claudia Schink.