FIAT NOX von Claudia Schink

Variationen zu dem Werkzyklus „Laboratorium, Versuchsreihen I - V“ 1991-1997

„Kunst ist das Versprechen des Glücks, das gebrochen wird.“ T. W. Adorno

I.
Es ist ein Begriff, der eine Fülle von Vorstellungen und Visionen erweckt, eine Vokabel mit magi- scher Wirkung - das Laboratorium. Es verheißt einen Ort, an welchem sich fern von routinierten Tageshandlungen und flüchtigem Zeitgeschehen verborgene Prozesse vollziehen, welche die Zukunft eröffnen und die Gegenwart um sich versinken lassen; es erzählt von einer Stätte, an der Veränderungen, Umformungen und Verwandlungen unter besonderen Mühen hervorge- bracht werden; es verweist auf eine verwunschene Zone, in welcher Ideale geformt und Unheil entwickelt und gezüchtet wird.

Der lateinische Wortstamm „labor“ bedeutet zunächst „Arbeit, Mühe, Beschwerde“, eigentlich „das Wanken unter einer Last“; das Verb „laborare“ meint „arbeiten, sich anstrengen“, auch „lei- den“, und ist auf das lateinische „labare“ - „wanken, schwanken“ zurückzuführen. Der „Laborant“ bezeichnet einen „mühsam Arbeitenden“, dieser „müht sich ab“: er „laboriert“.1 Die Stätte, an wel- cher er jene Anstrengung vollbringt, wird „Laboratorium“ genannt; der Begriff kennzeichnete ur- sprünglich den Tätigkeitsraum des Alchemisten, seine Werkstatt und Schmelzküche. Genau genommen bezeichnete das Laboratorium eine Gebetsstätte, ein „Oratorium“, in dem gearbeitet wird. Betend und arbeitend suchte dort der Laborant unter seelischer und körperlicher An- strengung den Weg zur höchsten Vollendung. Eine bestimmte psychologische Einstellung, eine geistige Konzentration sowie ein zeitlicher und körperlicher Einsatz waren die Bedingungen einer jeden transformativen Operation, die ein Alchemist hervorzubringen versuchte - in diesem Sinne war der Ausdruck „Versuch“ wörtlich zu verstehen: als ein Bemühen, ein Suchen.

Die Materie, die dem Adepten zu seinen Übungen diente, unterlag einer besonderen Behand- lung: sie wurde „gequält“ und so auf einen schwarzen Urstoff zurückgeführt; Metalle mußten „sterben“, um in ein ranghöheres Element verwandelt zu werden. Das Laboratorium war die Stätte solcher Art Transmutation, ein geheimnisumwitterter Ort, an welchem etwas geschah, das den Augen der Öffentlichkeit und der Laien verborgen blieb.2 Jene Werkstätte war eine Wunder- kammer, in deren Innern Prozesse vorangetrieben wurden, Transformationen stattfanden, eine Materie umformuliert werden sollte.

Das moderne medizinische und physikalische, das chemische oder gentechnische Labor stellt eine Weiterentwicklung des einstigen Werkraums des Alchemisten dar; trotz seiner technisierten Form trägt es noch heute jenen geheimnisvollen Charakter des Undurchschaubaren, des Gefähr- lichen und Gefahrbringenden in sich, immer noch schwingt auch der Aspekt einer Heilversprech- ung, der Gedanke einer Optimierung und die Verheißung letztlicher Vollendung mit.

Die Kammer des Labors ist ein geschlossenes System, zu dem zwei verschiedene Gruppie- rungen Zugang haben; zum einen betritt der Forscher, der Laborant, als das Subjekt der Anlage

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den Ort, und zum anderen gelangt dorthin das Forschungsmaterial: Versuchstiere, Elemente oder Probanden als seine Objekte. Eine dritte Gruppe der neutralen Besucher ist an jenem Ort im allgemeinen nicht vorgesehen.
Jedes Labor wird mit einer auf die zu unternehmende Operation genau bestimmte Einrichtung ausgestattet; der Versuch wird als eine planvoll veranstaltete Beobachtung definiert. Um be- stimmte erwünschte Reaktionen herauszufiltern und ungewollte Begleiterscheinungen oder Ver- haltensweisen zu eliminieren, ist die Handlungsstätte auf die zu erwartenden Prozesse hin ein- gerichtet, sie erhält einen manipulativen Charakter; das Erzielen möglichst genauer Ergebnisse wird programmiert.

Indem eine genaue Anordnung der Gegenstände und ein durch Anweisungen vorgeformter Ablauf die Untersuchung planbar und wiederholbar macht, garantiert die Laborarbeit eine Kanalisierung des Geschehens. Die Stätte der Beobachtung verheißt eine absolute Kontrolle über ihre Objekte, die Postulate des Experimentes lauteten Messbarkeit und Registrierung von Abweichungen. Der Forscher wird mit den Eigenschaften der Übersicht, Kontrolle und Macht ausgestattet, seine Objekte sind duch Unfreiheit, Amputation und Ohnmacht gekennzeichnet, sie werden zum ent- individualisierten Material. Jede Versuchsmasse, sei sie anorganisch oder lebendig, wird der Operation unterworfen.

II.
Unter dem Serientitel „Laboratorium“ versammelt Mic Enneper eine besondere Art von Raum- arbeiten, deren Vorbereitung und Planung bereits 1988 begann. Wie bei den Werken unter dem Titel „Lager“ strebte der Künstler von Anbeginn eine Reihung von Raumprojekten an, welche an verschiedenen Ausstellungsorten in einem losen Nacheinander folgen und inhaltlich wie formal aufeinander verweisen sollten. Ein jedes dieser Projekte wird als „Versuchsreihe“ numeriert. Mic Enneper eröffnet die Projektgruppe „Laboratorium“ 1991 mit der „Versuchsreihe I“ in der Kölner Galerie Sophia Ungers. Bei Betreten des Galerieraumes trifft der Besucher auf einen bis unter die Deckenstürze emporragenden Quader von dreieinhalb Metern Höhe, der mit schwarzen Stoffmassen verkleidet ist und durch sein ausgedehntes Volumen den Ausstellungsraum voll- kommen in Besitz nimmt. Die erste Wahrnehmung beschränkt sich auf den Anblick des dunkel- farbenen Tuches, welches den Körper mit sorgsam arrangiertem Faltenwurf umhüllt. Rund um den Quader ergibt dies den Anblick eines bühnengleichen Vorhanges, der das Objekt wie ein Wärmemantel bekleidet. An der Oberseite des Raumkörpers, knapp unter dem Deckensturz des Raumes, wurde der lichtschluckende Stoff in kleinen Falten zusammengerafft, welche von dort aus weichfallend in die Tiefe hinein sich öffnen und am Boden eine wellenförmige Draperie bil- den. Die Falten des weichen schwarzen Tuches in der Stofflichkeit von Samt fächern das Licht auf in Täler und Höhen und gliedern das ganze Objekt in das Regelmaß von Raffungen und Wellen. Zum ersten Mal verwendet Mic Enneper hier schwarzen Stoff als kompositorisches und malerisches Mittel, um einen raumgroßen Quader damit zu verhüllen.
Ein monotones Brummgeräusch scheint aus dem Inneren des Blockes herzurühren. Forscht ein Betrachter dem summenden Tone nach und umschreitet den verhangenen Körper, so gelangt er an der Hinterseite des Objektes überraschend an eine Öffnung, welche ihn lockt, das Innere des Raumkörpers zu betreten. Erst hier an seiner Rückseite offenbart das Projekt seinen dualen Charakter als Außen- und Innenarchitektur. Wie durch eine Sogwirkung gezogen führt der Stoff

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fließend in den Eingangsbereich, worin dem Eindringenden zunächst eine metallisch schim- mernde Blende den Einblick in das Innere verwehrt. Beidseitig der Stele kann er nun eine schwach beleuchtete Kammer betreten, deren Decke und Wände stählern glänzen. An der Frontseite sind in rhythmischem Abstand drei dunkle, runde Öffnungen in Augenhöhe wahr- nehmbar; beim Nähertreten ist ein kühler Luftzug aus deren Tiefen zu spüren. Die Temperatur des Raumes hat sich durch den steten Luftstrom leicht unterkühlt. Aus den drei Düsen scheint ein fremdartiger Äther in den Raum zu strömen, der die beklemmende Stimmung der kältestar- ren Wände potenziert. Die äußere Ummantelung des Raumkörpers erscheint nun wie ein schüt- zender Isolator des sich selbst unterkühlenden Objektes. Seine friedlich schwarze Umhüllung wirkt so in ästhetischer und psychologischer Weise wie eine wärmende Tröstung nach.

Ein schwarzes Tuch von gleicher Stofflichkeit taucht 1994 wieder auf bei dem Projekt „Laboratorium - Versuchsreihe II“ im Stadtmuseum Siegburg. Nach Eintritt in das Museum ver- merkt der Besucher ein helltönendes Rauschen, dessen Ursprung er zunächst nicht zu orten vermag. Im Begrüßungssaal der unteren Ebene stehend führt ein erster Blick hinauf zu einem fernen visuellen Kontakt mit dem Kunstprojekt: Eine breite Bahn schwarzen Tuches fällt vom oberen Balkon in den Festsaal hinab; allgegenwärtig ist das monotone Rauschen. Nach dem Treppenaufstieg trifft der Besucher im oberen Ausstellungsraum auf ein schwarz verhülltes Objekt, das bis unter die Dachfenster aufragt. An einer Seite wurde die Verkleidung herabgezo- gen, hier schiebt sich in stählerner Nacktheit ein mit Graphit polierter Kubus aus dem schwar- zen Tuch hervor, welches schräg über den Raumkörper geworfen wurde und dessen Stoff- massen sich zu einem Fluß formen und über ein Geländer winden, um wie eine Wasserkaskade in den unteren Saal zu stürzen. Der Raum ist erfüllt von dem anhaltenden Summen, als dessen Urquelle nun der verkleidete Block auszumachen ist; der gesamte Quader scheint zu vibrieren und in seinem Innern etwas auszubrüten.

An seiner Rückseite birgt das unter dem Stoff liegende Gehäuse einen schmalen Eingang, durch welchen der Ausstellungsbesucher in das schwach beleuchtete Innere gelangt, einer von dem kontinuierlichen Rauschen surrenden Kammer, deren Decke und Wände metallene Kühle ab- strahlen. An den Längsseiten sind gegenüberliegend zwei lange, mit kleinen Löchern perforierte Metallröhren horizontal zum Betrachter angebracht, beim Nähertreten ist ein starker Luftstrom aus diesen Bohrungen zu vernehmen. Auch hier hat sich die Temperatur des Raumes durch den ste- ten Luftzug leicht unterkühlt. Die feinen Düsen könnten ein geruchloses Gas in die Kammer ver- strömen, der Rezipient unterliegt dieser Verunsicherung.

Als Teil einer retrospektiv angelegten Ausstellung „Das Arsenal 1987 - 1996“ wurde das Projekt „Laboratorium. Versuchsreihe III“ im Jahr 1996 im Museum Leverkusen Schloß Morsbroich, reali- siert. In den Spiegelsaal des Schlosses, einem stuckverzierten hohen Raum im Stile des zweiten Rokoko, plazierte Mic Enneper sein auf zwei Stockwerke angelegtes Raumstück.

Vorbei an vier grün marmorierten Säulen, welche die höhergelegene Balustrade des Spiegel- saales stützen, gelangt der Betrachter bei Eintritt des Raumes direkt unter einen überhängenden Sturz des jäh vor ihm sich auftürmenden Doppelobjektes. Vor allem anderen nimmt der Ein- getretene die übergeworfenen schwarzen Stoffbahnen wahr, welche an dieser Eingangssituation auseinanderklaffen und den Blick auf zwei übereinander geschichtete, schwarz pigmentierte

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Quader freigeben, welche bis unter die reich verzierte Raumdecke ragen. Schwungvoll stürzt das enggeraffte schwarze Tuch aus dieser lichten Höhe zu Boden, über dem es ein Wellental bildet, um sogleich wieder in die Höhe zu beschleunigen, und hinter der gußeisernen Brüstung der Balustrade verschwindet, worauf seine Bewegung in kräuselnden Wellen verebbt.

An dem Wellental vorbei gelangt der Rezipient an eine große Front unverhüllter schwarzer Außen- planken des Projektes. Im Gegensatz zu den früheren Arten der „Laboratorien“, welche sich in monolithischer Einheit präsentierten, ist die Oberfläche dieses Objektes großflächig vertikal gerastert; mit diesem Kunstgriff stellt Mic Enneper einen direkten Bezug zu der schmuckvollen Paneelierung der Saalwände her. Verspielt goldgerahmte, überlebensgroße Spiegel werfen dem umhergehenden Betrachter irritierende Einblicke in ungewöhnliche Perspektiven zu, die sich fast unbemerkt zu den in lauter Teilansichten zerfallenden visuellen Eindrücken addieren. Eine einheit- liche Sichtweise ist dem Betrachter des ausgedehnten Raumkörpers nicht möglich. In starkem Kontrast wirkt der hermetische Charakter des „Laboratoriums“ zu den spielerischen Details des Rokokosaales, jedoch schafft das lebhaft erscheinende Element des Tuches eine Überbrückung. Einen Blick von einem völlig anderen Standpunkt aus kann der Rezipient von der höhergelegten Balustrade herab in den Raum werfen. Raumvolumen und die Höhe der Konstruktion erhalten von diesem Blickwinkel aus eine noch unermeßlichere Dimension, da trotz der erhöhten Panora- maschau keine distanzierte Übersicht entsteht; stolz und erhaben widersetzt sich das Raum- projekt einer jeden visuellen Vereinnahmung.

Durch eine Türöffnung, angelegt in der Breite der Rasterelemente, gelangt der Besucher in das verborgene Innere der Architektur. Im Gegensatz zu der monumentalen Höhe und der raum- sprengend großzügig angelegten Außenstruktur des Projektes erstaunen die beengte Raum- situation und die niedrige Deckenhöhe des gedrungenen Innenraumes, als habe der Betrachter gerade einen Kellerraum betreten, eine unterirdische Kammer. Die raumdurchfließende Hellig- keit des geschmückten Saales ist jäh verschwunden, nur schwach von einer Glühbirne beleuch- tet, glänzt die feucht anmutende Glätte geriebener und polierter Graphitflächen, vom Boden her schimmert das silbrige Raster von Metallgittern hinauf, ein schwaches Rauschen erfüllt den Raum. An der Frontseite zieht eine kreisrunde schwarze Öffnung in Schenkelhöhe die Aufmerk- samkeit des Eindringenden auf sich. Während der Rezipient sich wie magisch auf diese Höhlung hin zubewegt, erfüllt plötzlich ein leises Zischen den Ort, und aus der Öffnung wird weißer Nebel stoßartig in den Raum geschleudert. Rasch verfliegt diese Absonderung in der Kammer, doch wurde eine nachhaltige Verunsicherung geweckt, um welches geruchlose Gas es sich handeln möge. Das Entfachen von Erinnerungen und Assoziationen an bekannte Kammern, in die aus Öffnungen todbringende Gase entweichen, wurde von Mic Enneper durchaus beabsichtigt, die „Versuchsreihe III“ tut ihre Wirkung. Unterschwellig und wie zufällig tritt dieses Ereignis für den Rezipienten auf, der sich über eine längere Zeit in der Kammer aufhält: Alle drei Minuten nur ge- schieht eine Emission des weißen Nebels, der die Kammer kurzzeitig mit einem Geschehnis erfüllt; außerhalb dieser Zeit ist der Besucher auf seine eigene Existenz, seine Gedanken und Emotionen zurückgeworfen; das Rauminnere selbst bietet wenig Ablenkung. Einige Betrachter mögen die Kammer betreten und wieder verlassen, ohne das Ereignis des eruptiv ausgestoße- nen Nebels gesehen und erlebt zu haben.

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Für das Projekt „Laboratorium, Versuchsreihe IV“ im Kunstverein Karlsruhe benutzt Mic Enneper dieselben Elemente des Werkes aus Leverkusen, diese sind jedoch zu einer gänzlich neuen Komposition arrangiert. Das Projekt ist als Teil der Werktournee „Das Arsenal“ räumlich in den Ausstellungsverlauf integriert; von dem zentralen Hauptsaal des Kunstvereins aus durchschrei- tet der Besucher weitere Räume mit Modellen, Wandstücken und Bodenarbeiten des Künstlers. Als einen Vorboten des „Laboratoriums“ nimmt der Betrachter ein kleines Stück schwarzen Tuches wahr, mit welchem die Eingangstür zum großen Ausstellungssaal an ihrer Innenseite ein wenig verhangen ist; von hier aus betritt der Besucher den wohlproportionierten klassischen Ausstellungsraum, dessen geraume Höhe mit Oberlichtern abschließt. Am Boden vor dem Ein- tretenden breitet sich überraschend ein großer See aus schwarzen Stoffmassen aus, welcher von einem einfachen Kubus, der am Rande des Saales plaziert ist, herabzufließen scheint. Fast kreisrund ergießt sich die Stoffbahn mit kräuselnden Wellen über den Boden, bevor sie an der anderen Seite die Eingangstür streift, jene Wand emporschnellt und hinter einem Versprung ver- schwindet.

Durch diese Komposition gelingt es Mic Enneper, den weiträumigen Saal mit seinem Projekt „Laboratorium“ optisch zu besetzen, obwohl das Bauwerk selbst das Raumvolumen nicht aus- füllt. Der Quader, in dem sich die Installationen der „Versuchsreihe IV“ befinden, ist im Verhältnis zur Raumhöhe relativ niedrig, er wurde von dem Künstler bewußt dezentral plaziert, um dem dy- namischen und schwungvollen Element des Tuches Raum zu geben. Vorbei an den ästhetisch reizvollen Mäandern des samtschwarzen Stoffes gelangt der Betrachter zu dem mit trockenem schwarzen Pigment präparierten, längst gerasterten Kubus. Nach Umrundung dieses Objektes erreicht er dessen Rückseite, wo er Eintritt in das Innere des Quaders findet. Die mit silber- grauem Graphit polierten Innenseiten nehmen die großflächige Rasterung der Außenseite wie- der auf; der Betrachter findet eine kreisrunde Öffnung in Schenkelhöhe vor, ein sanftes Summen füllt den Raum an. Im zeitlichen Abstand von fünf Minuten wird weißer Rauch aus der Öffnung ausgestoßen. Wie eine Injektion schießt der weiße Nebel in den Raum, seine Emission erzeugt ein Gefühl der Verwirrung und Verunsicherung. Nach diesem Ereignis hat der Innenraum für den Besucher seine Unschuld verloren, ungeduldig horcht und wartet er auf die nächste Eruption, doch diese - so scheint es - bleibt zunächst aus. Auch hier mag ein ahnungsloser Besucher die Kammer wieder verlassen, ohne einen wesentlichen Teil der Arbeit gesehen, den Moment, in dem etwas geschieht, erlebt oder auch nur geahnt zu haben.

Im Skulpturenmuseum Glaskasten Marl, der dritten Station des „Arsenal“, inszenierte Mic Enneper das „Laboratorium, Versuchsreihe V“ in einem vergleichweise flachen und langgezo- genen Raum des Untergeschosses. In dem von Neonröhren beleuchteten Raum stößt ein prä- parierter Quader direkt bis unter die Deckenstürze, der Künstler hat das Projekt in eine kauernde Haltung gezwungen. Wie ein träge fließender Strom wälzt sich eine lange schwarze Stoffbahn von dem Raumkubus herabfallend längst des Raumes über die gesamte Bodenfläche zur Fensterfront hin, in längliche Furchen und Wellen kunstvoll gelegt. Es entsteht eine Sogwirkung, welche das Projekt stark fokussiert, das am Rande des Raumes errichtet ist. Am vorderen Ende, dort wo der Eingang in das Innere vom Raum abgekehrt liegt, ragt die nackte, schwarz pigmen- tierte Außenschale des Kubus hervor; das ausgedehnte Tuch scheint nach hinten hin weggezo- gen und das Projekt freigeben zu wollen. Betritt der Besucher das Innere der Inszenierung, so

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gelangt er in eine beengende Kammer mit graphitsilbrigen Wänden und Decke, auf Metallgittern schwankend nähert er sich einer gähnenden kreisrunden Öffnung an der Frontseite der Kammer, aus welcher bisweilen weißer Rauch emittiert.

Die drei Projekte „Versuchsreihe III, IV und V“ entwarf Mic Enneper als ein Ensemble vor Beginn der Ausstellungstournee; das Anfangsprojekt in Leverkusen trug bereits die zwei nachfolgenden Konzeptionen in sich. Der Künstler entwickelte eine Konstruktion, welche ihm ermöglichte, auf die verschiedenen Koordinaten der jeweiligen Räume zu reagieren und trotz der vollkommen divergierenden und teilweise schwierigen räumlichen Bedingungen dasselbe Material einzuset- zen; jede der drei Variationen war jedoch ein in sich selbst ruhendes und für den jeweiligen Raum erdachtes Projekt. Wände und Innenraum wurden stets neu präpariert, der Zeittakt des Intervalls, in welchem die Emission des Nebels erfolgte, wurde unterschiedlich gewählt; außer der Gestaltung des Innenlebens gab es keine optische Übereinstimmung. Das äußerlich gleich- bleibende Maß des Raumkörpers wirkte in den unterschiedlichen räumlichen Situationen so ver- schieden, daß die Gleichartigkeit für den Außenstehenden nicht nachvollziehbar war.

III.
Der Werktitel „Laboratorium“ läßt den Besucher erahnen, daß an dem Ausstellungsort etwas geschehen, eine Untersuchung stattfinden, daß dort an etwas gearbeitet wird. Der Interessent erhält zudem den Hinweis, es handele sich um eine Reihe von Versuchen: ihm wird ein empiri- sches Verfahren angedeutet, bei welchem mehrere Versuche durchgeführt werden, um zu einem erfahrungsbedingten Ergebnis mit relativer Gewißheit zu gelangen.

Betritt der Rezipient erwartungsvoll den Ausstellungsraum, interpretiert er das verhüllte Objekt als den Ort des Labors; er vermutet eine Versuchseinrichtung im Innern des Kubus und wähnt, er selbst könne als unbeteiligter Beobachter die Szene betreten. Er vermeint, von einer höher- gelegenen Perspektive aus einer künstlerischen Anordnung, ihrem Vorgang und den Ergeb- nissen der Versuchsreihe einsichtig zu werden; er glaubt sich als Empfänger einer vom Künstler ausgesandten Botschaft, und er versteht sich als gleichberechtigter, reflektierender Antwort- geber, als potentieller Partner und Mitwisser des Künstlers.

Mit dieser Vermutung begibt sich der Besucher in das Innere der Kammer; doch in jenem höch- sten Augenblick der Neugiede wird er jäh zurückgestoßen: den Eintretenden erwartet eine ab- weisende Kälte, ausgehend von silbrig schimmernden Wänden; sein Schritt bewegt sich unsi- cher auf Metallrosten, unter denen sich eine undefinierbar schwarze Tiefe auftut; aus Öffnungen und Löchern scheint Gefährliches zu entweichen. Mit Beklemmung ahnt der Betrachter, daß er selbst als Material dem angekündigten Versuchszweck dient, daß er unfreiwilliger und unge- fragter Proband dieser Versuchsanstalt geworden ist. Seiner Souveränität beraubt sieht er sich plötzlich zum Objekt des Künstlers degradiert, eine kompromittierende Erfahrung, die als eine Provokation erlebt werden kann und auf welche einzelne Objekte aggressiv reagieren.

Auf diese Weise gerät unerwartet jeder Ausstellungsbesucher zu einem Teil des Versuches, er ist ganz wesentlich das Versuchsmaterial; keine Person, die den Ort des Laboratoriums betritt, kann sich dieser Bestimmung entziehen. Nun wird offenbar, daß die gesamte Inszenierung der Ausstellung das „Laboratorium“ bedeutet, das Verhalten eines jeden Zuschauers steht zur

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Beobachtung. Der Rezipient ist Gefangener dieser Situation; wie er sich auch verhalten mag, seine Reaktionen bilden das Kernstück des Versuches: er zählt zu der Gruppe entindividualisier- ter Personen, welche die „Versuchsreihe“ ausmachen.
Doch im Gegensatz zu der genauen Anordnung und der Inszenierung der Ausstellung werden die Reaktionen der Zuschauer nicht gemessen, es finden keine Vergleiche statt, kein Ergebnis wird bekannt gegeben. Was aber bedeutet nun der „Versuch“?

Die Ergebnisse des Experimentes tragen die Probanden in sich selbst, sie bleiben im Geheimnis. Ein jeder Besucher weiß um sein persönliches Ergebnis, eine objektive, übergreifende Messung, ein Vergleich entfällt: Mic Enneper produziert eine Reihung von Ergebnissen mit jedem Proban- den. Obwohl von den Laboratorien keine wirkliche physische Bedrohung ausgeht, empfindet der Betrachter eine Gefährdung seiner selbst: es ist die Verletzung seiner seelischen Integrität, auf die er nicht gefaßt war; es ist, als würde die Versuchsperson mit einem Mal ausgestattet wer- den, ein Zeichen, das ihm nicht auf die Haut, sondern ins Gedächtnis gebrannt wird; die „che- mische“ Reaktion findet im psychischen Bereich statt.

Das eigentliche Geschehen, eine Bewegung, eine Verschiebung ereignet sich im Bewußtsein des Besuchers; seine Assoziationen und Erinnerungen verdichten sich, je länger er in der Kammer verweilt.

In einer ähnlichen Weise wie bei seinen Ausstellungsprojekten unter dem Titel „Lager“ appelliert Mic Enneper mit seinen Laboratorien unter anderem an das kollektive Gedächtnis der Holo- caust-Überlebenden: bei allen Laboratorien steht das Memorandum an den Vernichtungsort in den Konzentrationslagern schlechthin, die „Gaskammer“, als symbolische Metaebene hinter den einzelnen Projekten. Die Öffnungen und Düsen, aus denen Unbekanntes entweicht, scheinen direkt auf die klaustrophobische Szene der Tötungskammern anzuspielen. Anders jedoch als bei den Projekten „Lager“, bei denen der Betrachter durch eine Sicherheitsscheibe von dem Innen- raum getrennt blieb, gelangt er bei den Laboratorien direkt mit den Instrumenten des Versuches in eine leibliche Berührung, als stellvertretendes Opfer nimmt er in seiner Phantasie die Position des zu Tötenden ein. Hier eröffnet sich die zweite Bedeutung des Wortes „Versuch“, indem es eine Absicht, eine Bemühung bedeuten kann, die Erinnerungen an das Grauen wachzurufen. Es ist ein Versuch, ohne eine leibliche Versehrung körperliches Mißbehagen auszulösen.

Eine Erinnerung kann nur lebendig weitergetragen werden, indem sie in den Köpfen von Ein- zelnen verankert wird, sie existiert nicht in Archiven und Büchern; die Erinnerung ist ein psychi- scher Faktor im Gedächtnis der Überlebenden und Nachgeborenen. Das unwohle Empfinden, das der Betrachter erhält und als eine Bedrohung fühlt, wird vielleicht nicht so sehr von seiner Furcht verursacht, real verletzt zu werden, sondern die provozierten negativen Assoziationen und Erinnerungen werden als eine unerwünschte Störung wahrgenommen. Der gemächliche Fluß pri- vater Befindlichkeit gerät jäh und unerwartet aus dem Gleichgewicht. Nicht der Raum als sol- cher, sondern der Betrachter selbst löst das Experiment aus.

IV.
Alle Raumarbeiten, die Mic Enneper entwirft, sind Konzeptionen eines Raum-in-Raum-Erleb- nisses, sie bilden architektonische, dem Menschmaß angepaßte, betretbare Hohlkörper, welche speziell auf die Koordinaten des Ausstellungsraumes abgestimmt sind. Diese spezifische Eigen-

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art ist nicht nur ein formal-ästhetischer Kunstgriff, sondern sie entspricht auch einer besonderen inhaltliche Bewandtnis. Die äußere Umgebung des „Laboratoriums“ verharrt in einer stummen, statischen Ästhetik, doch in seiner verborgenen Keimzelle ereignet sich das erhabene Drama des: „es geschieht“.3

Der äußere Raum aller „Laboratorien“ ist gekennzeichnet durch die Verwendung eines stilvoll eingesetzten schwarzen Tuches als Kompositionselement; der dunkle Stoff erhält einen Wert der Wiedererkennung, durch welchen die einzelnen Projekte rein formal ihrer Werkserie zuzuordnen sind. Die kunstvollen Faltungen der üppigen Stoffmassen bewirken eine fast naturhafte Schön- heit; schwarze Wasserfälle, Seen und Ströme, geformt aus samtigen Kräuselungen und großzü- gigen Wellen, vermitteln die erhabene Dimension ihrer natürlichen Vorbilder und verwandeln die Außenräume der Versuchsreihen in prachtvolle Weiden der Augenlust. Zugleich stellt sich fast nebenbei der verhüllende Aspekt der Tücher ein; das Material verleiht mit seiner theateresken Schönheit der äußeren Erscheinung die Fähigkeit der Ablenkung und Verführung.

Die Verhüllung ist ein Einhüllen und Verdecken zugleich; hinter dem Tuch ruht das Denkmal vor seiner Entblößung, unter dem Tuch geschieht die Verwandlung der Zauberei, im schwarzen Tuch verbirgt sich das Geheimnis; dies Schwarz mag an die Prima Materia gemahnen und die Mühe und Qualen des Versuches prophezeien. Berauscht von der fließenden Pracht jedoch glei- tet der Betrachter hinein in den Sog der Gefahr, der Verführte gelangt trunken an die Schwelle zum zweiten Akt.

Die Kammer ist ein Ort, an dem etwas geschieht. In einen unbekannten Raum einzutreten, be- deutet, sich einer ungewissen Situation auszusetzen. Ursprüngliche Empfindungen und Gefah- ren, die mit dem Status des Fremden, des Gastes in archaischen Zeiten verbunden waren und sich unbewußt als psychologisches Erbe bis in die heutige Zeit erhalten haben, verleihen dem Eintretenden das Gefühl der Unterlegenheit und gemahnen ihn zur Umsicht und Vorsicht; seine Unterwerfung bekundend verneigt sich der Gast.

Jene Grundstimmung der Unsicherheit und Unterlegenheit des Fremden verstärkt Mic Enneper durch die besondere Präparierung seiner Innenräume. Die ideale Situation des Raumerlebens sieht der Künstler dann gegeben, wenn die Person sich allein in den Raum hineinbegibt und ohne Ablenkung und soziale Verstärkung dem Projekt in purer Einsamkeit gegenübersteht, nun können sich die suggestiven Kräfte und Mächte ungehindert entfalten und den Gast in ihren Bann ziehen.

Mit dem Eintritt des Betrachters in die innere Kammer des Projektes verläßt er die rational-ästhe- tische Sphäre des Ausstellungsraumes, um in eine von psychischen Feldern aufgeladene Welt zu gelangen. Die Eingangsöffnung kommt einer Pforte zur Unterwelt gleich: das Licht verdunkelt sich, der Raum ist beengt, die Wände verströmen eine feuchtkühle Atmosphäre. Surrende Ven- tile, dunkle Öffnungen und metallische Bodengitter reichern die Zelle mit weiteren Details des Unbehagens an, schwarze Höhlungen, eine undefinierbar schwarze Tiefe unter den Schritten mobilisieren irrationale Ängste und Befürchtungen. Ähnlich einer Höhle oder einem dunklen Verlies öffnet die Kammer das Unterbewußtsein ihrer erschauernden Besucher, hier „verharren die Dunkelheiten Tag und Nacht“, hier wohnt „vergrabener Wahnsinn, vermauertes Drama“4. Die fensterlose Situation des puren Innenseins mag manchen Rezipienten beklemmen, er ist jeder

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Ablenkung und all seiner Ausweichmöglichkeiten beraubt, schwerlich gelingt es ihm, einen bloß ästhetischen Standpunkt zu dem Dargebotenen einzunehmen. So drängen sich ihm Zweifel und Verwirrung, Fragen und Befürchtungen unverhohlen auf. Inmitten einer kargen Umgebung ist er unvermittelt sich selbst ausgeliefert, nach einer kontemplativen Befriedigung seiner sinnlichen Augenlust widerfährt ihm plötzlich eine Begegnung mit seinen archaischen Ängsten und existen- tiellen Zweifeln. Auf der Suche nach Bildern und Symbolen, die ihn seiner Grenzen entheben und sie weniger spürbar machen, erfährt der Besucher eine geschickt eingefädelte Entblößung gera- de seiner Unvollkommenheit; sein Dasein wird vor es selbst gebracht in der Angst.

Die Innenräume von Mic Enneper vermögen die existenziellen Urängste des Menschen zu er- wecken, sie bilden eine psychische und irrationale Sphäre, in der alltägliche Geschäftigkeit und narkotisierende Gewohnheiten nicht mehr greifen; ein tiefer Riß, so spürt ein jeder, läuft unü- berwindbar durch das Leben des Einzelnen. „Aber diese Erscheinung des Selbst auf der ande- ren Seite der Welt, das heißt die Erscheinung der Ganzheit des Realen, ist ein Emportauchen der ‘menschlichen Realität’ im Nichts. Allein im Nichts kann man das Seiende überschreiten. Nur für einen Standpunkt jenseits der Welt ist das Seiende zur Welt gegliedert, was einerseits bedeu- tet, daß die menschliche Realität entsteht als ein Emportauchen des Seins im Nicht-Sein, ande- rerseits, daß die Welt in das Nichts ‘hineingehalten’ ist. Die Angst ist die Entdeckung dieser zwei- fachen und ununterbrochenen Nichtung.“5 Diese schmerzhafte Stelle des Bewußtseins aufzu- decken, welche durch den glücksorientierten Konsum einer säkularisierten Gesellschaft zuneh- mend verborgen gehalten wird, diesen Riß zu enttarnen, über dessen Tiefe und Ernsthaftigkeit leichtfertig hinweggelebt wird, ist eine Zielvorstellung Mic Ennepers. Jedes „Laboratorium“ ist demnach eine Anstalt, deren äußere Erscheinung durch einen malerisch schönen Anblick ver- führt, um dann seine Betrachter an ihrem empfindlichsten Nerv zu treffen: die Ungewißheit des Lebens, die Gewißheit des Todes, die Gefahr der Sterblichkeit in jedem Augenblick präsentiert sich in plötzlicher Nacktheit. „Dieses Schaudern ist nicht mehr eine menschliche Furcht, man spürt es gut, sondern eine anthropokosmische Furcht, ein Widerhall der großen Sage vom Menschen, der zu seiner Ursprungssituation zurückkehrt.“6

Anmerkungen:

1 Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, München, 1997, S. 755
2 "... denn die Alchemie ist eine Kunst, die es erfordert, daß der Ausübende im Geheimen und mit totalem Einsatz arbeitet...“ Cherry Gilchrist: Alchemie, Braunschweig, 1992, S. 91
3 zum Aspekt des Erhabenen bei Mic Enneper siehe Claudia Schink: Schwarze Strahlung, in: Mic Enneper: Lager 50°56’/6°57’ Nord-Ost, Katalog Josef-Haubrich-Kunsthalle Köln, 1991, S. 13 f 4 Gaston Bachelard: Die Poetik des Raumes, Frankfurt 1987, S. 44 f
5 J.P.Sartre: Das Sein und das Nichts, Reinbek, 1995; S. 57
6 Bachelard, a.a.O., S. 48